Was ist eine "Risikogruppe" und wie groß ist sie?
In der Wochenzeitung "Die Zeit" vom 15.5.2008 untersucht der Bildungsforscher Klaus Klemm den verwirrenden Gebrauch dieses Zentralbegriffs der PISA-Forschung:
"Ein Beispiel für den irritierenden Umgang mit Definitionen ist der Gebrauch des Begriffs »Risikogruppe«. Kaum ein Begriff aus dem Vokabular der Pisa-Studien hat eine vergleichbare Karriere gemacht. Er schlug ein, weil mit ihm auf ein schwerwiegendes Problem des deutschen Schulsystems aufmerksam gemacht wurde. Seit der ersten Studie sagen die Pisa-Autoren, »dass Jugendliche, die den entsprechenden Anforderungen nicht gewachsen sind, erhebliche Schwierigkeiten beim Übergang in das Berufsleben haben werden«. Irritierend ist jedoch zweierlei: Zum einen findet sich in den Veröffentlichungen der Pisa-Konsortien an keiner Stelle ein Hinweis darauf, wie sie zu der Grenzziehung gekommen sind, unterhalb derer sie junge Menschen der Risikogruppe zurechnen. Zum anderen verblüfft, dass diese Grenzziehung willkürlich wechselt: In der Pisa-2000-Veröffentlichung werden etwa mit Blick auf die Lesekompetenz »15-Jährige, die die Kompetenzstufe I nicht erreichen, im Hinblick auf ihre Aussichten als Risikogruppe definiert«; diese Schüler sind de facto Analphabeten. In der Pisa-2003-Studie werden dann auch diejenigen Jugendlichen zur Risikogruppe gerechnet, die auf der Kompetenzstufe I verharren; dazu gehören dann auch Schüler, die einzelne Wörter erkennen, aber nicht im Sinnzusammenhang einordnen können.
Demnach zählen im Jahr 2000 zehn, drei Jahre später jedoch 22 Prozent der Fünfzehnjährigen zur Risikogruppe – ohne dass die vorgenommene Definitionsausweitung mitgeteilt oder gar begründet würde. Dies ist nicht nur wissenschaftlich problematisch, sondern zeitigt auf dem Ausbildungsplatzmarkt schwerwiegende Folgen: Wenn die renommierte Bildungsforschung den Anbietern von Ausbildungsplätzen die Erkenntnis liefert, dass nicht bloß zehn, sondern mehr als zwanzig Prozent der Jugendlichen über die für eine Ausbildung erforderlichen Kompetenzen nicht verfügen, so erhalten diese Anbieter auf bequeme Weise eine Legitimation für ihre Weigerung, Ausbildungsplätze in bedarfsdeckender Anzahl bereitzustellen. Übrigens: In der Pisa-2006-Veröffentlichung taucht der Begriff »Risikogruppe« nicht mehr auf.
Nicht minder verwirrend sind die Indikatoren, die in den Pisa-Studien zur Darstellung des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Bildung angeboten werden. Grundsätzlich gilt: Es ist ein nicht hoch genug einzuschätzendes Verdienst der Studien, darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass dieser Zusammenhang besteht und dass er in Deutschland besonders stark ausgeprägt ist. Aber: In den Studien werden drei verschiedene Maße zur Bestimmung der sozialen Lage der Familien verwendet. Auch für die Indikatoren, die den Zusammenhang zwischen sozialer Lage und Bildung beschreiben, bieten die Studien drei unterschiedliche Indikatoren an. Daraus ergeben sich theoretisch neun verschiedene Varianten der Darstellung des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und Bildung. Da die Autoren in den bisher vorliegenden Studien dieses Darstellungspotenzial unterschiedlich ausschöpfen, lassen sich einzelne Indikatoren nicht von Studie zu Studie verfolgen. So wurde – um ein Beispiel zu geben – in der ersten Studie dieser Zusammenhang unter anderem dadurch dargestellt, dass die Leistungsdifferenz im Leseverständnis zwischen dem sozial stärksten und dem sozial schwächsten Viertel als Indikator gewählt wurde. Diese Differenz wies für Deutschland den international höchsten Wert aus und begründete seinen Ruf als Spitzenreiter im Feld der sozialen Ungleichheit. Eine vergleichbare Darstellung findet sich in der Studie 2003, aber jetzt für Mathematik. Das Ergebnis ist ähnlich verheerend. In der Studie 2006 nun wird mit einem anderen Indikator gearbeitet. Dieser neue Indikator zeigt für 2006 an, dass die soziale Disparität in fünf Ländern, darunter Frankreich, ausgeprägter als in Deutschland ist; in drei weiteren Ländern, darunter die Niederlande, befindet sie sich genau auf dem deutschen Niveau. Geht es also in Deutschland neuerdings gerechter zu?
Die Frage, ob die Stichproben so gezogen sind, dass sie ein für Deutschland repräsentatives Bild bieten, wurde schon bei den ersten Studien vorgebracht. Bei der Pisa-2006-Untersuchung stellt sie sich – mit Blick auf die Jugendlichen mit Migrationshintergrund – erneut. Zwar muss anerkannt werden, dass erst der Wechsel vom Ausländer- zum Migrantenkonzept, der durch die Pisa-Studien durchgesetzt wurde, das ganze Ausmaß der Schwierigkeiten, die das deutsche Schulsystem in diesem Feld offenbart, sichtbar gemacht hat. Statt nur Jugendliche gesondert zu betrachten, die keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, nimmt man nun vernünftigerweise jene Schüler ins Auge, deren Väter oder Mütter zugewandert sind. Gleichwohl verblüfft eine Angabe in der Pisa-2006-Untersuchung: Wie die Autoren mitteilen, macht der Anteil der Fünfzehnjährigen mit Migrationshintergrund an allen Fünfzehnjährigen der getesteten Schüler 19,4 Prozent aus. Für das gleiche Jahr gibt dagegen der deutsche Mikrozensus für die Altersgruppe der Zehn- bis unter Fünfzehnjährigen einen Anteilswert von 27,3 Prozent und für die Fünfzehn- bis unter Zwanzigjährigen einen Wert von 23,7 Prozent an. Für die Fünfzehnjährigen, die im Mikrozensus nicht gesondert ausgewiesen werden, darf daher von etwa 25 Prozent ausgegangen werden. Der Migrantenanteil in der deutschen Pisa-Studie ist also deutlich unterrepräsentiert. Wenn aber die Schülergruppe, die insgesamt eher schwächere Leistungen erbringt, in der Stichprobe zu gering vertreten ist, hat das verbessernde Folgen für das Leistungsbild der getesteten Population insgesamt. Dies lässt Zweifel daran aufkommen, dass, wie die Pisa-2006-Analysen es darstellen, gerade die schwächeren Jugendlichen gegenüber den Studien von 2000 und 2003 besser geworden sein sollen.
Widersprüchliche Interpretationen von Daten haben Folgen für die Politik
Die Tendenz, auf Befunde, die im Kontext der eigenen Arbeit Relevanz haben, nicht einzugehen, wurde besonders im Umfeld der Präsentation der Pisa-2006-Studie offenkundig. Auf die Frage, ob Deutschlands Schülerinnen und Schüler in den Naturwissenschaften gegenüber den früheren Studien leistungsstärker geworden seien, gab das deutsche Konsortium eine klare Antwort: In denjenigen Teilbereichen der Naturwissenschaften, die schon durch die Aufgaben der vorangegangenen Studien abgedeckt wurden, habe es für die Jahre zwischen 2003 und 2006 einen signifikanten, also einen bedeutsamen Anstieg gegeben. Die gleiche Frage beantwortet die von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) vorgelegte Auswertung dieser Aufgaben gegenteilig: Es gebe keine signifikante Leistungssteigerung. Nun mag es zwar angehen, dass aufgrund unterschiedlicher methodischer Ansätze auch sich widersprechende Dateninterpretationen angeboten werden. Problematisch aber ist, dass weder das deutsche Konsortium noch die OECD-Wissenschaftler in ihren Veröffentlichungen darauf hinweisen, dass sie zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen kommen. Schon gar nicht liefern sie Erklärungen für die unterschiedlichen Interpretationsangebote. Dies ist nicht geeignet, das Vertrauen in die Belastbarkeit empirisch gewonnener Aussagen zum Schulsystem zu festigen.
Die mangelnde Kontinuität in der Analyse wie auch bei der Präsentation von Untersuchungsergebnissen, Zweifel an der Repräsentativität der Stichproben und nicht zuletzt widersprüchliche Interpretationen desselben Datensatzes können politisch folgenreich werden. Sie geben all denen, die bei der Konzipierung von Bildungspolitik lieber auf hergebrachte Überzeugungen als auf belastbares Wissen setzen, willkommene Argumente dafür, den gerade eingeschlagenen Weg evidenzbasierter Politik wieder zu verlassen. Die Bildungsforschung würde dann auf die Funktion zurückgedrängt, die Forschung nur zu oft für die Politik hat – nämlich die der Legitimierung einer »bauchbasierten« Steuerungspolitik. Das wäre schade."