Hessischer Bildungsserver / Förderung der Lesekompetenz

Diagnostik im Unterricht

Umgang mit förderdiagnostischen Verfahren

 

Von Anne Nellen, Institut für Qualitätsentwicklung, April 2005

Rückblick zum Begriff Förderdiagnostik

Seit den frühen Achtziger Jahren gibt es in der Sonderpädagogik eine Diskussion über "gute" Diagnostik. Die bis dahin praktizierte Selektions- oder Statusdiagnostik war vom medizinischen Krankheitsmodell geprägt und mit dem Infragestellen des alten Behinde­rungskonzeptes in Misskredit geraten. Behinderung wird heute nicht mehr als objektiver Tatbestand definiert, der sichtbar und/oder messbar an einem Defizit (bei den Sinnes­wahrnehmungen, der Motorik oder der Intelligenz bzw. dem Verhalten) der einzelnen Person festgemacht wird. Behinderung ist ein soziales Konstrukt. Gesellschaftlich fest­gelegt ist, welche Störungen oder Abweichungen wir als Behinderungen wahrnehmen: z.B. das Hinken eines Menschen als Körperbehinderung, andere Störungen aber nicht, z.B. mangelnde Beziehungsfähigkeit bezeichnen wir nicht als Liebesbehinderung.

Besonders problematisch sind die Begriffe Lernbehinderung und Verhaltensauffälligkeit. Die Erfahrung zeigt, dass es nur bis zu einem gewissen Grad von der Intelligenz eines Schülers abhängt, ob er in der Regelklasse erfolgreich lernen kann. Andere wesentliche Faktoren für Schulerfolg oder -misserfolg sind vor allem der soziale Familienhintergrund und Motivation, aber auch Faktoren wie Klassenzusammensetzung, Verhalten, Haltung der Lehrerperson und der Schule, Fördermöglichkeiten und Unterstützungssysteme etc. Das gleiche gilt für Verhaltensauffälligkeiten.

Keine Diagnostik kann menschliche Entwicklung genau genug prognostizieren. Im alten Modell der Behinderung wurden überdauernde Eigenschaften des Individuums, wie z.B. die Intelligenz durch psychometrische Individualtests getestet .Wurde ein Defizit attestiert, erfolgte eine Einweisung in die entsprechende Institution (Sonder- oder wie es jetzt eu­phemistisch heißt Förderschule), in der solche Menschen "passten". Danach war Dia­gnostik nicht mehr nötig außer bei Auffälligkeiten.

Merkmale von Förderdiagnostik

Die sich seit den achtziger Jahren entwickelnde Diskussion um Integration und Inklusion erforderte eine Förder(ungs)diagnostik, die die Leistungen und Möglichkeiten eines Men­schen in seinem konkreten Umfeld erhebt und beschreibt, so dass auf dieser Grundlage Fördermöglichkeiten entwickelt werden können, die auf den jeweiligen Menschen, den jeweiligen Bildungsort und mögliche Unterstützungssysteme zugeschnitten sind.

Die Frage ist nicht mehr wie bei der Selektionsdiagnostik: Wo kann das Kind am besten gefördert werden? sondern: Was braucht das Kind, um sich optimal entwickeln zu können und wie können wir das unterstützen bzw. möglich machen?

Diagnostik im Unterricht ist der Kern der Förderdiagnostik im Umfeld Schule. Neben der Analyse der Lernprozesse und -ergebnisse geht es bei der Planung von Förderung auch um Analysen der Ressourcen, die es beim Schüler, im Elternhaus und in anderen Unter­stützungssystemen gibt (im Sinne einer Resilienz).

Förderdiagnostik ist situationsbezogen, in der Schule hat sie deshalb vor allem die kon­kreten Situationen und Inhalte im Blick, in und mit denen Schüler/-innen handeln und ler­nen. Sie vermeidet Verallgemeinerungen, stattdessen versucht sie so genau wie möglich das Verhalten und Ergebnis in einer Situation zu beschreiben, mit den Anteilen aller Be­teiligten einschließlich des Diagnostizierenden.

Sie unterscheidet sich von der Selektionsdiagnostik nicht durch die Verfahren. Alle Ver­fahren, die Auskunft geben können über die Leistungen und Möglichkeiten, werden unter der oben genannten Fragestellung und im Hinblick auf Zeitökonomie genutzt: normierte Tests, Lernstandserhebungen, Selbsteinschätzungen und Beobachtungen.

Förderdiagnostik ist prozessorientiert. Der Prozess ist wichtiger als das Produkt. So in­teressiert bei einem Intelligenztest weniger der IQ, sondern wie der Proband mit den un­terschiedlichen Testaufgaben, mit Schwierigkeiten und Frustrationen umgeht, welche Selbsteinschätzung er äußert, aber auch, in welchen Bereichen seine Stärken liegen, damit die Förderung so geplant werden kann, dass Stärken genutzt und weiter entwickelt werden bzw. die Schwächen weit möglichst gemindert oder ausgeglichen werden können.

Förderdiagnostik ist dialogisch: Nur gemeinsam im Austausch mit allen Beteiligten kann man sich der Wahrheit annähern. Deshalb sind die Selbstauskunft des Schülers/der Schülerin und das gemeinsame Gespräch über Ziel, Vorgehen und Ergebnisse der Über­prüfung zentral.

Diagnostik ist immer hypothesengeleitet. Sie unterscheidet sich vom alltäglichen mit­laufenden Diagnostizieren durch die Bewusstmachung von Hypothesen. Förderdiagnostik ist orientiert an Entwicklungs-, Wissens- und/oder Wirkungsmodellen.

Ein Beispiel: Die Lehrperson ist der Meinung, dass in ihrer Klasse einige Schüler/-innen nicht altersge­mäß, d.h. zu langsam und mit vielen Fehlern lesen.

Sie will wissen, ob diese Hypothese wahr oder falsch ist. Sie sucht ein Verfahren, das Schnelligkeit und Genauigkeit beim Lesen misst und einen Vergleichsmaßstab (durch eine Eichstichprobe von Gleichaltrigen) bietet. Sie macht ein Screening mit einem Gruppenlesetest. Dann vergleicht sie die Ergebnisse mit ihren Einschätzungen. Bei Diskrepanzen oder sehr schwachen Leistungen muss sie genauer hinschauen. Im ersten Fall überlegt sie, woran es liegen könnte, dass ihre Einschätzung und das Ergebnis so weit auseinander fallen: Vielleicht ist sie vom lauten Vorlesen ausgegangen und stellt nun fest, dass die Schülerin, die doch immer so fließend und betont vorgelesen hat, nicht in der Lage war, genau und d.h. sinnverstehend zu lesen. Sie hat Vorlesen mit sinnentneh­menden Lesen verwechselt. Der andere Schüler, der sich beim lauten Vorlesen schwer tut, kann dagegen vielleicht schnell und genau sinnerfassend leise lesen.

Wenn Schüler/-innen besonders langsam und ungenau lesen, ist ein Individualtest not­wendig, der an normierten Lesetexten, d.h. Texten, die möglichst von ähnlicher Schwie­rigkeit sind, die individuellen Lese- und Verbesserungsstrategien beobachtbar machen. Beispiele für solche Aufgaben gibt die » Hamburger Leseprobe. Kompetenzorientierte Auf­gaben wie die von IGLU- bzw. PISA geben auch Auskunft, vor allem wenn Schüler/-innen sie lösen und dabei ihre Überlegungen begleitend mitteilen.

Diese Daten, egal ob es sich um Selbstauskünfte der Lernenden, Testdaten, Aufgabenlösungen oder Beobachtungen handelt, können nun in die Unterrichtsplanung eingehen. Die Lehrperson verknüpft sie mit ihrem Wissen über Lernen und ihren Erfahrungen, welches nützliche Hilfestellungen sind, welche Teilkompetenz als nächstes "dran" ist, welche Aufgabenstellungen und Lernarrangements dem Schüler helfen. Das ist die Grundlage für Förderung, die sie plant, wohl wissend: "Ein wichtiger Bestandteil diagnostischer Kompetenz ist daher die Fähigkeit, die Spannungen auszuhalten und reflexiv zu verarbeiten, die sich daraus ergeben, dass misslingende Lernprozesse immer wieder auch die Grenzen eigener methodisch-didaktischer und kommunikativer Fähigkeiten spüren lassen." [HORSTKEMPER,M. (2004): Diagnosekompetenz als Teil pädagogischer Professionalität. In: Neue Sammlung, 44.Jg. H.2, S. 209]

Ablaufplan: Überprüfung der Lernvoraussetzungen

1) Ich mache mir meine Hypothesen und Absichten klar. Von welcher Hypothese gehe ich aus, und was will ich genau wissen? 

Dabei entscheide ich mich:

-     ob ich eher grobe Informationen über die gesamte Lerngruppe in einem definierten Bereich des Unterrichts haben will, um Unterricht zu planen oder ob ich Angaben zu den Kenntnissen und Fähigkeiten einzelner Schüler/-innen haben will, um sie besser unterstützen zu können. Häufig ist es sinnvoll, erst ein Screening der Gesamtgruppe in einem Lernbereich zu machen und dann zu entscheiden, über wel­che Schüler/-innen ich dazu mehr Informationen brauche.

-     zu welchem Zeitpunkt ich diese Information haben möchte: am Anfang um die Lern­ausgangslage besser zu kennen, oder am Ende einer Lerneinheit, um Lernfort­schritte festzustellen;

-     für ein ökonomisches Vorgehen: ich werde Verfahren bevorzugen, die sich gut in meinen Unterricht einpassen und die zeitsparend ausgewertet werden können;

-     ob ich Wissen oder Kompetenzen überprüfen will- auch wenn die Unterscheidung nicht immer ganz trennscharf zu machen ist, ist sie für die Auswahl der Verfahren doch wichtig, weil ich sonst nicht herausbekomme, was ich eigentlich wissen möchte;

-     ob ich Verhalten untersuchen will; häufig überdeckt auffälliges Verhalten die Leis­tung.

 

2) Ich plane mein Vorgehen:

-     Ich entscheide mich für bestimmte Verfahren, Methoden, Instrumente , evtl. in einer bestimmten Folge: z.B. Selbsteinschätzungsbogen, dann Screening mit der Klasse, anschließend Einzeltest. Oder bei einer Schüler/-in: zwei unterschiedliche Verfahren z.B. Rechtschreiben: erst HSP, dann Analyse eines Eigentextes mit AFRA.

-     Ich schätze den Zeitbedarf für Vorbereitung, Durchführung, Auswertung und Rückmeldung.

-     Ich überlege, mit welchen Personen ich ein Gespräch haben werde über die Ergeb­nisse und meine Folgerungen daraus.

3) Ich plane auf der Grundlage der neuen Kenntnisse die anschließenden Lernprozesse.

Beispiele für Diagnoseverfahren

Im Folgenden sind einige Beispiele für Diagnoseverfahren im Lernbereich Lesen aufgelistet, häufig sind sie schon regelmäßiger Bestandteil des Unterrichts, z.B. summative Lernkontrollen. Dann werden sie eher zur Benotung benutzt und weniger zur Diagnose des Könnens und zur Planung der Weiterarbeit.

Absichten, Ziele und mögliche Verfahren zur Feststellung von Leseleistungen der Schüler/-innen, Einschätzung der Ergebnisse

Die tabellarische Darstellung stellt jeweils Aussagen für eine Lerngruppe (linke Hälfte) und Aussagen in Bezug auf einen einzelnen Schüler bzw. eine Schülerin (rechte Hälfte) gegenüber.

1. (Vor-)Wissen, Fertigkeiten feststellen

Am Anfang mit einer neuen Lerngruppe: Vorwissen und Selbsteinschätzung erfahren

Am Ende einer Lerneinheit, vor einer Leistungskontrolle Wissen, Fertigkeiten feststellen

Verfahren:
(Vor-)Wissen erkunden mit Beispielaufgaben und Aufträgen, durch mündliches oder schriftliches Fragen bzw. Fragebögen zu Vorerfahrungen und Einstellungen. Mögliche Fragen: Was ist für dich leicht, was ist schwierig zu lesen? Wo bist du sicher/noch unsicher - was hat dir bisher geholfen - was/wen brauchst du noch zur Unterstützung? etc.

Antworten veröffentlichen, d.h. sammeln, evtl. bündeln, Absichten klären, begründen, und weiteres Vorgehen planen, festlegen, dann mit Schülern besprechen.

Endziel: Auf dieser Grundlage kann jeder Schüler einen eigenen Arbeits-Übungs-Plan, evtl. mit Hilfe erstellen

Etwas über den individuellen Umgang mit Wissen erfahren

Verfahren zusätzlich zu den Verfahren für die Gruppe:
kriterienorientierte Beobachtung bei Tätigkeiten, Analyse von Produkten, Gespräch über Wissen, Vorgehen und Einstellungen

2. Können i.S. von Fähigkeit überprüfen

Einen Überblick bekommen durch quantitative Analysen und Bewertungen mit Verfahren, die grob sortieren in Können und Nichtkönnen

Verfahren:
Screening Verfahren zum Sortieren, wie bestimmte standardisierte Gruppentests, z.B. Salzburger Lesescreening für die Klassen 5-8 (SLS 5-8), Stolperwörter-Lesetest

Prüfaufgaben, die nicht benotet werden z.B. aus PISA, IGLU oder landesweiten Vergleichsarbeiten, Jahrgangsstufentests aus anderen Bundesländern. Diese landesweiten Arbeiten liefern Vergleichsnormen, indem sie die Lösungshäufigkeit einer Aufgabe angeben. Diese kann mit den Ergebnissen der eigenen Klasse verglichen werden, um so eine objektivere Einschätzung der Leistungen dieser Klasse zu bekommen. Gleichzeitig kann die Lehrperson die eigene Diagnosekompetenz überprüfen: Bevor die Schüler/-innen die Arbeit schreiben, geht die Lehrperson für jede/n die Aufgaben durch und markiert, ob dieser Schüler ihrer Meinung nach die Aufgabe löst (+), nicht löst (-), oder ob sie unsicher ist, ob dem Schüler die Aufgabe gelingt (o). Nachdem die Schüler die Leseaufgaben gelöst haben, werden die Ergebnisse mit der Prognose verglichen. Bei erheblichen Diskrepanzen muss überprüft werden, woran das liegen könnte.
Aufgaben aus Aufgabensammlungen, z.B. von Verlagen
Klassenarbeiten etc., die Lesekompetenz abfragen i.S. von Kompetenzmodellen wie bei PISA

Genauere Beschreibungen von beschreibbaren Fähigkeiten bekommen durch qualitative Analysen und Bewertung

Wichtigstes Verfahren: Gezielte Beobachtung. Sie bezieht sich sowohl auf den Lernprozess und das Lernverhalten. Mögliche Fragestellungen: In welchen Lernsituationen, mit welchen Lernmitteln, etc. lernt dieser Schüler am besten? - Und in Bezug auf eine qualitative Analyse der Arbeitsprodukte: Was kann der Schüler schon? Was muss er noch lernen? Was kann er als nächstes lernen? Bei dieser Analyse wird von einem Modell der Leseentwicklung ausgegangen. Fehler werden als Verweise auf die vom Schüler verwendeten Strategien gesehen und geben damit Aufschluss über den Stand seiner Lesekompetenz.
Aufgaben, die qualitative Kriterien beinhalten, bei denen der Schüler seinen Lösungsweg beschreibt;
Kompetenzraster
Selbsteinschätzungsbögen
Gespräch über Selbst- und Fremdeinschätzung
qualitative Fehleranalysen in individuellen, standardisierten Tests, z.B. HLP 1-4 ( » Hamburger Leseprobe).

Landesweite Verfahren kann man für diesen Zweck wenig nutzen. Man kann sie vergleichen mit einer Taschenlampe in einem Ballsaal: Sie haben nur wenige Aufgaben für umfassende Lernbereiche. Deshalb werfen sie nur ein sehr begrenztes Licht auf einzelne Fähigkeiten. Wenn aber 100.000 Taschenlampen (sprich: Testergebnisse) vorliegen, ist der Ballsaal hell. Zu nutzen sind die Arbeiten zur Überprüfung der eigenen Diagnosekompetenz.

3. Lernfortschritte feststellen

Den Erfolg meines Unterrichts oder bestimmter Interventionen feststellen

Verfahren:
Wiederholung bestimmter Aufgaben (-typen) nach der Lerneinheit, am Ende eines Jahres Wiederholungsmessung mit einem normierten Instrument, im jährlichen Abstand

Den individuellen Lernerfolg eines Kindes feststellen

Verfahren:
alle für die Lerngruppe aufgeführten Verfahren bis auf die landesweiten Verfahren (s.o.)

4. Verhalten analysieren

Implizite Regeln, Rituale, Aufbau von Verhaltensweisen in der (Lese)-Lerngruppe erkennen

Verfahren:
Hypothesengeleitetes Beobachten entweder durch ein verfremdendes Auge (Gast oder Videokamera) oder durch die Lehrperson selber, quantitativ mit Liste: Häufigkeit bestimmter Verhaltensweisen - Auswertung: Sind Muster erkennbar, wer oder was setzt Verhalten in Gang, in welcher Situation ergibt sich das Verhalten, welche Interventionen sehe ich ... Erst nach einer möglichst genauen Beschreibung eine Interpretation versuchen, sich bewusst sein, dass Verstehen die Ausnahme ist, Nichtverstehen die Regel.
Fragebögen, Gespräche zur Motivation, um eigenes Verhaltens und das der anderen einzuschätzen, zu Wünschen, Vereinbarungen

Den Sinn für ein bestimmtes, scheinbar kontraproduktives Verhalten suchen und verstehen

Verfahren:
alle für die Lerngruppe aufgeführten Verfahren