Rudolf
Kretschmann
Pädagogische
Diagnostik, Förderpläne und kollegiale Kooperation
Kassel, 21. 7. 2003
Einige der Ergebnisse der PISA-Studie deuten darauf hin, dass es um die Diagnosekompetenz von Lehrerinnen und Lehrern an deutschen Schulen nicht zum Besten bestellt ist. Dies wird als eine der Ursachen für das schwache Abschneiden vieler Lernender in der PISA-Studie angesehen; denn wenn Lernrückstände nicht erkannt werden, kann und muss auch nichts unternommen werden, sie abzubauen. Mit der Folge, dass Defizite kumulieren und die unterrichtlichen Angebote die Lernenden nicht mehr erreichen.
Neben vielen anderen Maßnahmen soll eine verbesserte Diagnosekompetenz der Lehrkräfte zu einer Besserung bei den Lernleistungen der Schülerinnen und Schüler führen. Ich habe gewisse Zweifel an der Methodik dieses Befundes. Immerhin hat die Aussage den Fokus auf einen lange Zeit zu Unrecht vernachlässigten Bestandteil pädagogischen Handelns gelenkt.
Diagnosen sind ein wichtiger Bestandteil des pädagogischen Geschehens.
Jede Arbeit erfordert geeignetes Handwerkszeug. Und hier beginnt bereits das erste Problem. Infolge des geringen Stellenwerts der Diagnostik in der Schulpädagogik wurde von der Disziplin wenig unternommen, eigene Verfahren zu entwickeln. Statt dessen bediente man sich bei der Nachbardisziplin "Psychologie". Daher ist das, was man aus schulischer Perspektive zunächst wahrnehmen kann, über weite Strecken psychologische Diagnostik, entwickelt für psychologische Fragestellungen und für die Arbeitsfelder der Psychologie, etwa
- für Forschungszwecke, um statistisch auswertbare psychologische Zusammenhänge und Entwicklungen zu erhellen
- für die klinisch-therapeutische Praxis
- für Berufsprognosen
- für Begutachtungen, etwa Glaubwürdigkeitsgutachten oder Sorgerechtsgutachten vor Gericht.
Für Diagnosen in pädagogischen Arbeitsfeldern sind diese Verfahren nur bedingt geeignet:
- Sie sind produktorientiert, d.h. sie bilden das Lernergebnis ab und nicht den Lernprozess.
- Sie erlauben, die relative Position eines Kindes im Vergleich zu einem Kollektiv zu ermitteln, sagen aber nur bedingt aus, welche Anteile des Lerngegenstands bewältigt werden und welche nicht.
- Sie sind, bis auf wenige Ausnahmen, auf die Leistungen ausgerichtet, die ein Kind am Ende eines Schuljahres aufgebaut haben sollte und bilden nur bedingt die Lernschritte ab, die zwischen den Schuljahresenden liegen.
Psychometrische Tests können mithelfen zu entscheiden, ob ein Kind förderbedürftig ist. Ob andere oder zusätzliche Angebote zu realisieren sind als das reguläre Unterrichtsangebot. Um ein Förderkonzept für ein Kind zu entwickeln, reichen die Informationen, die sie liefern, in der Regel jedoch nicht aus. Hierzu benötigen wir eine Pädagogische Diagnostik, die sich in wesentlichen Teilen von dem unterscheidet, was die Psychologische Diagnostik entwickelt hat. U. a. werden benötigt
In mehreren Forschungsprojekten der Universität Bremen waren wir bemüht, einige Lücken auf dem Gebiet der Pädagogischen Diagnostik zu schließen. Dabei entstanden u.a. folgende Kompetenzinventare, "Prozessdiagnose der Schriftsprachkompetenz in den Schuljahren 1 und 2"3 sowie "Prozessdiagnose mathematischer Kompetenzen in den Schuljahren 1 und 2"4. Bei den "Prozessdiagnosen" handelt es sich um Diagnosekompendien, also Fragen- und Aufgabensammlungen zu verschiedenen lernrelevanten Kompetenzen und Verhaltensweisen. Insgesamt gesehen besteht bei der Entwicklung pädagogischer Diagnoseverfahren ein enormer Nachholbedarf.
Aber zunächst: man benötigt nicht für alles und jedes einen Test. Die genuinen diagnostischen Zugänge von Lehrerinnen und Lehrern zu einem Kind sind
Zu praktisch tauglichen und wissenschaftlich akzeptablen Vorgehensweisen werden diese diagnostischen Zugänge, wenn sie vor dem Hintergrund gesicherter Modelle erfolgen, also theoriegeleitet sind. Ein Lehrer, eine Lehrerin kann durchaus zutreffende Beobachtungen im Unterricht durchführen, wenn sie
Je genauere Kenntnisse Lehrerinnen und Lehrer von solchen Prozessen haben, desto beobachtungssensibler werden sie und es gelingen ihnen mittels teilnehmender Beobachtung womöglich bessere Diagnosen als mit einer aufwendigen psychologischen Testbatterie.
Natürlich gibt es auch Situationen, wo ein Diagnoseverfahren hilfreich sein kann. Für Förderzwecke ist dies ein neuer Typus eines Diagnoseinstruments, das Kompetenzinventar. Es gibt verschiedne Arten von Kompetenzinventaren:
Ich möchte exemplarisch auf zwei diagnostische Zugänge eingehen:
Portfolio und Prozessdiagnosen – zwei Beispiele Pädagogischer Diagnostik
2.1 Prozessdiagnose der
Schriftsprachkompetenz in den Schuljahren 1 und 2,
Prozessdiagnose
mathematischer Kompetenzen in den Schuljahren 1 und 2
Bei den "Prozessdiagnosen"
handelt es sich um Diagnosekompendien,
Sie orientieren sich am
Lernstoff der ersten beiden Schuljahre. Bei Lernenden mit umfangreichen
Lernrückständen in einem Fach können sie jedoch auch noch in weitaus höheren
Schulstufen eingesetzt werden, um festzustellen, welche elementaren
Teilfertigkeiten bewältigt und welche ggf. nicht.
Prozessdiagnosen - Übersicht
Prozessdiagnose der Schiftsprachkompetenz in den Schuljahren 1 und 2 (1 Band) |
Prozessdiagnose mathematischer Kompetenzen in den Schuljahren 1 und 2 (3 Bände) |
Vorgaben zur
Lernstandsanalyse | |
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Vortest zur
Aufgabensammlung |
Aufgaben zur Überprüfung der Lernfortschritte beim Lesen und Schreiben |
Aufgaben zur Überprüfung mathematischer Kompetenzen auf verschiedenen Repräsentationsniveaus |
Vorgaben zur Ermittlung lernrelevanter Bedingungen und Hinweise zur Förderung | |
Fragen zur Ermittlung emotionaler Einstellungen und der Motivation zum Lesen und Schreiben |
Fragen zur Ermittlung emotionaler Einstellungen und der Motivation zum Fach Mathematik |
Fragen zur Ermittlung außerschulischer Erfahrungen mit Büchern, mit Schrift |
Fragen zur Ermittlung des Lebensweltbezugs mathematischer Vorstellungen |
Verhaltens- und Merkmalsliste zur Beurteilung der Allgemeinentwicklung von Schulkindern | |
Protokollbogen zum Lernhandeln und zur
Motivation | |
Kurzgefasste Förderhinweise zu Störungen bei der Aneignung des Schriftspracherwerbs |
Kurzgefasste Förderhinweise zu Störungen bei der Aneignung mathematischer Kompetenzen |
Die Diagnoseverfahren, die wir vorlegen, sind gedacht als
Die Aufgabensammlungen sind keine Tests im herkömmlichen Sinn. Sie sind nicht konzipiert, um Punktwerte zu liefern. Sie sollen Einsichten liefern. Einsichten, wie ein Kind an Aufgaben herangeht. Einsichten, wie weit ein Kind auf dem Lernkontinuum gekommen ist und Erkenntnisse, welche Gefühle die Angebote und Anforderungen bei einem Kind auslösen. Sie sind gedacht für die Hand kompetenter Lehrerinnen und Lehrer, welche ihre Kinder kennen und ihre Unterrichtsfächer und in dieser Kenntnis souverän entscheiden können, welche Fragen sie welchen Kindern stellen, bzw. welche Aufgaben sie auswählen und welche sie weglassen. Denn einem Kind alle Aufgaben zu stellen, dazu ist die Sammlung zu umfangreich. Darüber hinaus erwarten wir, dass sich die Prüfverfahren mit der Zeit zu einem gewissen Grade selbst überflüssig machen: Viele der Aufgaben und Fragen sind als Denkanstöße gedacht, sein Augenmerk auf diesen oder jenen Sachverhalt zu richten. Lehrerinnen und Lehrer, die dadurch diagnostisch sensibilisiert sind, werden mit der Zeit immer mehr diagnostische Informationen beiläufig aus den täglichen pädagogischen Prozessen beziehen.
Auf drei Besonderheiten dieser Prüfverfahren möchte ich Sie aufmerksam machen.
Beim Technischen Lesen werden einem
Kind einzeln Wortkarten vorgelegt. Bei der Auswertung werden nicht nur richtig
oder falsch gelesene Wörter gezählt. Es besteht darüber hinaus die Möglichkeit
zu registrieren, wie ein Kind an eine Aufgabe herangeht.
Tabelle 2: Qualitative Auswertung des Untertests "Technisches Lesen"
Prüfwörter |
Bein |
Baum |
Leine |
laufen |
vom Kind gelesenes Wort |
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liest fließend und richtig |
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liest langsam, lautierend oder syllabiert richtig |
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verbessert sich selbst |
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synthetisiert, aber erfasst wegen falscher Betonung die Wortbedeutung nicht |
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benennt einzelne Buchstaben u. versucht, den Rest zu konstruieren (raten) |
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benennt alle Grapheme richtig, aber synthetisiert nicht |
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benennt einzelne Grapheme, (sagt ev. willkürliche Wörter) |
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erfragt einzelne Buchstaben, liest aber nicht |
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gibt keine Antwort |
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Je nachdem, wie die Leseversuche
eines Kindes ausfallen, gibt die Auswertung Hinweise, ob z.B.
- die Buchstabenkenntnis eines Kindes gefestigt werden muss,
- die Synthese automatisiert oder
- eine unzweckmäßige Lesestrategie, wie z.B. Ratelesen, durch eine zweckmäßige ersetzt werden sollte.
Ähnliche Auswertungsmöglichkeiten bieten wir zu allen Prüfaufgaben an, bei denen dies möglich ist. Die Überprüfung liefert somit nicht nur die Information, ob die Rückstände eines Kindes so groß sind, dass ein Förderbedarf besteht. Sie liefert auch Erkenntnisse, wo genau die Förderung ansetzen muss.
Arbeitsverhalten |
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Motivation |
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Das Kind |
x? |
Das Kind |
x? |
operiert überwiegend schnell (zügig) und planvoll; |
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nimmt die Aufgabe in Angriff und bemüht sich um eine Lösung; |
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operiert überwiegend langsam, aber gründlich und mit System; |
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bemüht sich weiter, auch wenn Schwierigkeiten auftauchen |
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operiert schnell, aber überhastet und mit wenig System; |
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gibt Lösungsversuche schnell auf; |
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operiert überwiegend langsam und planlos. |
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macht keinen Lösungsversuch. |
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Sie können sich leicht
vorstellen, dass diese Informationen von äußerster Wichtigkeit sind für die
Gestaltung von Förderangeboten. Sie können sich auch leicht vergegenwärtigen,
dass gebräuchliche Tests, die nur die Registrierung richtiger oder falscher
Lösungen zulassen, solche Informationen schlicht
unterschlagen.
3. Wir sehen bei unseren
diagnostischen Annäherungen das Kind nicht nur als denkenden, sondern auch als
fühlenden Menschen und wir versuchen in Erfahrungen zu bringen, welche Gefühle
ein Kind dem Lerngegenstand entgegenbringt.
Unsere Aufgabensammlung
sieht daher einen Fragenkatalog vor, mit dem ermittelt werden soll, mit welchen
Gefühlen ein Kind dem Lesen und Schreiben oder Rechnen begegnet. In der Regel
wählen wir für diese Fragen sogar einen Einstieg, weil sie nicht nur wichtige
diagnostische Informationen liefern, sondern es auch ermöglichen, eine Beziehung
zu dem Kind herzustellen.
Die folgenden Fragen sind
als ein Gesprächsleitfaden gedacht. Die Formulierungen müssen nicht wörtlich
übernommen werden, sollten jedoch annäherungsweise beibehalten werden.
Befragt werden sollen Kinder, die beim Lesen und Schreiben Schwierigkeiten
haben. Im Zweifelsfall entscheiden Sie selbst, welche Fragen Sie einem Kind
stellen wollen.
Protokollbogen zur Ermittlung der emotionalen Einstellung des Kindes zum Lerngegenstand
(Lesen und Schreiben)
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Antworten des Kindes |
Welche Schulfächer magst du am Liebsten? |
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Welches Fach magst du am Wenigsten? |
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Wie ist es mit Lesen und Schreiben (Deutsch)? |
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Sagst du "Lesen und Schreiben" oder sagst du Deutschunterricht? (Im Folgenden den vom Kind bevorzugten Ausdruck verwenden!) |
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Wie kommst du mit dem Lesen und Schreiben zurecht? |
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Was fällt dir schwer beim Lesen? |
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Was fällt dir schwer beim Schreiben? |
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Was fällt dir leicht? |
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Was magst du am Wenigsten? (warum nicht?) |
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Was magst du am Liebsten? |
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Magst du lieber lesen oder magst du lieber schreiben? |
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Wir erwarten dabei nicht,
dass das Kind sich "richtig" zuordnet. Auch Diskrepanzen zwischen der
Selbsteinschätzung und der tatsächlich erbrachten Leistung können
aufschlussreich sein; einem Kind, welches seine Leistungen überschätzt wird bei
der Förderung anders zu begegnen sein, als einem, welches sich unterschätzt
bzw., einem, das eine realistische Vorstellung von seinen Leistungen hat. In
jedem Fall handelt es sich bei der Vorgabe um einen ausgezeichneten Stimulus, um
mit einem Kind über seine Probleme ins Gespräch zu kommen.
Wir erleben, dass dieser
Aufgabenkomplex sehr bedeutsam für Diagnose und Förderung ist. Lehrerinnen und
Lehrer berichten, sie haben durch die Antworten der Kinder eine "völlig neue
Sicht" auf das Kind gewonnen und "Ich hatte bis dahin immer gedacht das Kind sei
desinteressiert. Jetzt weiß ich, dass es Angst hat, zu versagen". Was Sie tun
können, wenn Ihr Förderkind Angst vor dem Lesen und Schreiben hat, finden Sie in
dem gleichen Kapitel in einer Kurzfassung. Und in einer Langfassung in dem Buch
"Was tun bei Motivationsproblemen". Kurzgefasste Förderhinweise finden sich in
dem Diagosekompendium. Ausführliche Fördervorschläge und Fördermaterialien
finden sich in dem Buch v. KRETSCHMANN u. ROSE, 2000,
"Was tun bei Motivationsproblemen?".
Das Diagnosekompendium
"Prozessdiagnose mathematischer Kompetenzen" enthält Prüfaufgaben zum Stoff der
ersten beiden Schuljahre. Im Übrigen ist es ähnlich konzipiert wie
Prozessdiagnose Schrift:
2.2 Das
Portfolio
Portfolios sind Sammlungen von
zusammengestellten Belegstücken. Ein Portfolio ist z. B. die "Mappe", mit der
man sich für ein Kunststudium bewirbt, oder die in einem Ordner gesammelten
Arbeiten eines Journalisten für ein Vorstellungsgespräch, wobei die Praxis, eine
Dokumentation von Arbeitsergebnissen vorzulegen, sich immer mehr auch in anderen
Berufen durchsetzt.
In der
Schule bezeichnet
man damit eine Sammlung von Schülerarbeiten über einen längeren Zeitraum, d.h.
für die Zeit eines Quartals, eines Halbjahrs, eines Schuljahres oder gar einer
Schulstufe. Es dreht sich dabei also um "ein Sichtbarmachen von Lernspuren".
Es gibt im Bereich Schule
mehrere Arten von Portfolios:
Ein Portfolio kann
enthalten
Arbeitsergebnisse, die von der Schule gefordert werden |
Außerschulisch erbrachte Arbeiten zusätzlich zu den Arbeitsergebnisse, die von der Schule gefordert werden |
Rückmeldungen, Beobachtungen von Lehrerinnen |
Schülerreflexionen über den eigenen Lernfortschritt |
z.B.
|
z.B.
|
z.B.
|
Z.B.
|
Die eher schulbezogenen "Work-Portfolios" und die "Best-Practice-Portfolios haben mehrere Funktionen, und zwar diagnostische wie pädagogische.
Die diagnostische Funktion besteht darin,
Von nicht geringerem wert ist der Pädagogische Nutzen
Lehrkräfte können darüber hinaus anhand der Portfolios ihren Unterricht passend zu den Lernständen der Lernenden planen. Das gilt vor allem bei einem Wechsel der Lehrperson oder der Schulstufe. Die Lehrerin, der Lehrer kann sich anhand der Portfolios vergewissern, Welche Inhaltewie intensiv bearbeitet wurden. Er oder sie kann sich ein Bild machen, was wiederholt und verfestigt werden muss bz. was eine überflüssige Doppelung wäre. Und vor allem bilden die Portfolios eine Grundlage für die innere Differenzierung.
Die Arbeit mit einem Portfolio kann wie folgt eingeführt werden:
Ein Portfolio kann wie folgt aufgebaut sein:
Das Portfolio kann und soll
u.a. auch der Leistungsbeurteilung dienen. Die Lernenden müssen dabei vorab
wissen, wie ihre Leistungen beurteilt werden. Die Lehrerin sollte anhand von
Beispielen die Kriterien offen legen, z. B.
Zweierlei ist bei der
Arbeit mit dem Portfolio wichtig:
Die Arbeit mit dem
Portfolio impliziert daher ein mehrschrittiges Arbeiten:
Die Aufgabe der Lehrperson
ist, behutsam Rückmeldung zu geben, anzuregen, zu ermutigen, Hilfestellung zu
geben. Erfahrungsgemäß sich Lernende unglaublich stolz, wenn sie, was
ursprünglich vielleicht ein kaum leserliches Gekritzel war, in ansehnlicher form
lerleben und präsentieren können.
Im übrigen entspricht ein
mehrschrittiges Vorgehen der Lebenswirklichkeit. Wir selbst bedienen uns dieser
Schrittfolge, bevor wir einen Text an die Öffentlichkeit geben. Nur von Schülern
wird bisher verlangt, dass sie ihre ersten entwürfe (z.B. einen Klassenaufsatz)
öffentlich machen müssen.
Ich hatte eingangs die Notwendigkeit einer eigenständigen Pädagogischen Diagnostik postuliert – dieses diagnostische Vorgehen ist weit entfernt von dem, wie und was ein normativer Test an Leistungen überprüft. Es ist vielleicht nicht so eindeutig objektiv wie ein normativer Test. Es ist aber vielleicht nicht weniger gültig, denn während der Test nur ein sehr schmales Segment des Leistungsspektrums prüft, breitet sich in einem Portfolio die gesamte Leistungslandschaft aus. Es ist auch deshalb nicht weniger gültig, weil es Prozesse ermöglicht und sowohl Lehrkräfte hilft, ihre Lernangebote zu optimieren als auch den Lerneden Hilfestellungen gibt, sowohl ihre Leistungen als auch ihre Lernstrategien auf ein höheres Niveau zu bringen.
3. Das Umfeld in die
Diagnose einbeziehen
Die Vorgaben in den Prozessdiagnosen zielen darauf ab, Erkenntnisse über schulisch relevante Kompetenzen und Verhaltensweisen der Kinder in Erfahrung zu bringen. Wir haben an anderer Stelle bereits ausgeführt, dass es auch von Bedeutung sein kann, sich mit dem Umfeld eines Kindes zu beschäftigen, dem schulischen und dem außerschulischen. Bei der Einschätzung des Umfelds soll in Erfahrung gebracht werden,
Tabelle 2 zeigt eine Gegenüberstellung Risiken und Schutzfaktoren im schulischen und im außerschulischen Umfeld
Man mag sich wundern, dass es bei der großen Zahl von Gefährdungspotenzialen, die sich bei einzelnen Kindern ermitteln lassen, überhaupt noch zu einem Lernerfolg kommt. Zum Glück gibt es nicht nur Risiken, sondern auch entwicklungsfördernde Bedingungen, in der Tabelle als Unterstützungspotenziale benannt. Unterstützungspotenziale sind Bedingungen im Umfeld der Person, die sich entwicklungsfördernd auswirken können.
Die Wissenschaft ist erstaunlicherweise erst sehr spät auf den Bereiche der Widerstandskräfte und Unterstützungspotenziale aufmerksam geworden. In der Fachliteratur finden sich ursprünglich die Begriffspaare "Risikofaktoren – Schutzfaktoren" bzw. "Risiko vs. Resilienz". Das englische Adjektiv "resilient" lässt sich übersetzen mit "abfedernd", "abprallend". Resilienzbedingungen sind also solche, welche Risiken abfedern oder abprallen lassen. Ich ziehe es vor, von "Gefährdungspotenzialen" und von "Unterstützungspotenzialen" zu sprechen, bzw. von "Widerstandskräften", wenn es sich um Eigenschaften oder Kompetenzen von Individuen handelt. Ich gebe dem Begriff Potenzial den Vorzug, weil er
Der Bedeutungsaspekt "etwas, was herbeigeführt werden könnte" wird sich als bedeutsam erweisen bei der Konzeption von Förderangeboten.
Tabelle 2: Risiken und Schutzfaktoren im Umfeld eines
Kindes
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Risiken, Gefährdungspotenziale |
Schutzfaktoren, Unterstützungspotenziale |
Außerschuli-sche, häusliche Sozialisationsbedingungen |
Materielle
Unsicherheit Beengte
Wohnverhältnisse Traumata durch Flucht, Vertreibung,
Arbeitslosigkeit - Anregungsarmes häusliches Milieu - Illiterales Milieu
- Geringe Sprach- und
Schriftsprachkompetenz der Erziehungspersonen - geringe und
eingeschränkte - Gestörte familiale Beziehungen, Vernachlässigung des Kindes, - Überbehütung, - Überforderung - Hoher Mediumkonsum - Zugehörigkeit zu antisozialer Peer-Group |
Materielle und soziale Sicherheit der Familie anregungsreiches, ermutigendes Erziehungsklima Ausreichend Kommunikation - Literales Milieu - Eigene Bücher, Vorlesen - Begleitung des Lernprozesses durch häusliche Bezugspersonen - Unterstützung bei den Hausaufgaben - Nachhilfe |
Schulische Sozialisationsbedingungen und pädagogische Angebote |
- Unfreundliche bauliche Gestaltung der Schule, dürftige Einrichtung und Ausstattung; - Zu wenig Personal, zu große Klassen - Schlechtes Schulklima, fehlende Kooperation unter den Lehrerinnen und Lehrern - Sehr heterogene
Schülerschaft - Ablehnendes Lehrerverhalten, gestörte Schüler- Lehrer- Beziehung - Konflikte mit Mitschülern - Hoher Leistungsdruck - Gleichtakt des Lernens - Zu wenig zugestandene Lernzeit - Fehlende Passung - Inhaltsarme Formalangebote |
- Freundliche Gestaltung der Schule (Klassenzimmer, Gebäude, Schulhof) - Kollektives Bemühen der Lehrkräfte um eine kindgerechte Schule - Binnendifferenzierender Unterricht in allen Fächern - Projektunterricht - Unterstützungssysteme für in ihrer Entwicklung gefährdete Kinder (Sprachförderung, Deutschunterricht für Kinder ausländischer Herkunft, Beratungslehrer, Stützpädagogen) - - Erlebnis- und erfahrungsbezogene Angebote - Sorgfältige Passung der Angebote an individuelle Ausgangslagen - Ausgiebige Bearbeitung der besonderen Schwierigkeiten des Lerngegenstands - Ausreichende Lernzeit für alle - Unterstützungsangebote für Kinder mit akuten Lern-problemen - Hilfen zur Ausbildung zweckmäßiger Aneignungsstrategien - Jahrgangsübergreifender Unterricht mit Lernzeitverlängerung - Schule mit familienergänzenden Aufgaben, Schulsozialarbeit, Betreuungsschule, Hort |
Positivwirkungen werden
nach diesem Konzept als Folgen eines Bündels günstiger Bedingungen angesehen und
Negativwirkungen als Folgen eines Bündels ungünstiger Einflüsse und
Voraussetzungen.
Störungen, sind nach diesem
Konzept zu erwarten, wenn die Menge und das Gewicht von Gefährdungspotenzialen
Menge und das Gewicht der Widerstandskräfte bzw. Unterstützungspotenziale
übersteigt.
Eine Verringerung von
Störungen ist zu erwarten, wenn es gelingt,
Zur Erfassung der
Umfeldbedingungen bedienen wir uns verschiedener
Checklisten:
Kind-Umfeld-Analyse: Außerschulische
Lebensbedingungen
Außerschulische Lebens- und Lernbedingungen |
Eher ja |
Eher nein |
Bemerkungen |
Die Familie lebt in wirtschaftlich gesicherten Verhältnissen |
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Die Wohnverhältnisse sind hinreichend, das Kind hat zu Hause einen Ort, an dem es in Ruhe schulische Aufgaben erledigen kann |
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Die Familie lebt in sozial konstanten Verhältnissen |
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Das häusliche Milieu ist anregungsreich und kommunikativ |
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In der Familie wird deutsch gesprochen
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Das Kind verfügt über Bücher und lernförderliches Spielzeug |
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Die Eltern / die Erziehungsperson(en) sind / ist um das körperliche und seelische Wohlergehen der Kinder bemüht |
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Das Erziehungsklima ist freundlich und zugewandt |
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Das Kind erhält Unterstützung in schulischen Angelegenheiten |
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Das Kind erhält Hausaufgabenhilfe bzw. Nachhilfe |
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Das Kind hat Freunde/Geschwister, die es ihm ermöglichen, sich sozial zu entfalten |
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Das Kind erhält außerschulische Betreuungsangebote, Hort, Spielkreis etc. |
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Das Kind erhält Anregungen durch Sport, Spielkreise, musische Angebote |
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Besondere Stärken des Häuslichen Milieus (Unterstützungspotenziale)
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Besondere Belastungen der Familie bzw. im häuslichen Milieu (Gefährdungspotenziale)
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Kind-Umfeld-Analyse: Schulisches
Umfeld
Schulische Lebens- und Lernbedingungen |
Eher ja |
Eher nein |
Bemerkungen |
Das Kind erhält Angebote, die seinem Kompetenzniveau angepasst sind. |
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Das Kind erhält Angebote, die seinen Interessen entsprechen |
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Die Lehrerin ist um das Kind bemüht |
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Das Schüler-Lehrer-Verhältnis ist entspannt |
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Das Kind erhält besondere Förder- und Unterstützungsangebote, und zwar
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Das Kind ist bei seinen Mitschülern akzeptiert |
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Das Kind hat Freunde und Gefährten
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Besondere Unterstützungspotenziale im schulischen Umfeld
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Besondere Gefährdungspotenziale im schulischen Umfeld
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Vielleicht fällt Ihnen auf, dass alle Kategorien positiv formuliert sind. Das ist nicht ohne Grund erfolgt. Negativformulierungen erhalten leicht den Charakter der Anschuldigung und des pädagogischen Fatalismus. Fatalismus lähmt die pädagogischen Bemühungen. Anschuldigungen erschweren die Kooperation.
Die Listen sind noch nicht ganz ausgereift. Vielleicht regen Sie die Vorgaben dazu an, nach diesem Muster eigene Skalen zu entwickeln.
Was nützt es mir, wenn ich mir vergegenwärtige, wie das Kind lebt und lernt?
4. Individuelle
Entwicklungspläne
Diagnoseergebnisse zu erzielen ist das eine, sie adäquat pädagogisch zu beantworten ist das andere. Diagnosen sind wertlos, mit unter sogar kontraproduktiv, wenn sie nicht dazu führen, dass Lernende besondere, an ihre Lernausgangslage angepasste Angebot erhalten. Natürlich wird man in einer Klasse mit 25 Lerneden nicht die Bedarfe jedes einzelnen Lerneden bis in die allerfeinsten Verästelungen verfolgen können. Aber sich klar zu werden:
das kann für Lehrer wie Schüler hilfreich sein, denn der Lernerfolg der Lernenden ist ja auch der beruflich Erfolg der Lehrenden.
Ein Hilfsmittel, diagnostische Angebote adäquat zu beantworten ist der Individuelle Entwicklungsplan. Es gibt sehr ausgefeilte Pläne für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf (vgl. KRETSCHMANN u. ARNOLD 1999). Der Klassenunterricht erfordert ein vereinfachtes Verfahren.
Beispiel
Individueller Entwicklungsplan für Natascha Höfner
Unterrichtszeitraum: 2. Quartal, 6. Schuljahr 2003
Unterrichtsfach: Deutsch; Lehrerin: Frau Kopf
Ziele für das nächste Quartal: Natascha soll lernen, Texte möglichst fehlerfrei zu erstellen.
Methoden:
Zielvereinbarung: Natascha erklärt sich bereit, mit sechs von ihr zu erarbeiteten Texten von wenigstens zwei Seiten Länge so zu verfahren.
Bilanzgespräche: In jeder dritten Woche führen die Lehrerin und Natascha ein Bilanzgespräch, in dem thematisiert wird, wie weit N. in ihren Bemühungen vorangekommen ist und welche Unterstützung sie ggf. benötigt. Die bis dahin erbrachten Arbeiten werden anhand des in der Schule üblichen "assessment sheet" von der Lehrerin beurteilt und von der Schülerin eingeschätzt. Natascha erhält die Gelegenheit, Arbeiten ggf. nachzubessern.
5. Vom Individuellen Entwicklungsplan
zur Zielvereinbarung
Lehren ist mehr als die Interaktion zwischen einer Lehrerin und einem Kind und die Lehr-Lern-Beziehung ist kein mechanischer Vorgang. Lehren ist immer ein Hineinwirken in ein komplexes Geflecht von Beziehungen einer ganzen Reihe von handelnden Personen:
Nur wenn alle Beteiligten die gleichen oder zumindest miteinander verinbare Ziele verfolgen, ist der Lehrtätigkeit ein Erfolg beschieden. Lehren und unterrichten ist ein vergebliches Bemühen, wenn
Effiziente Lehrtätigkeit erfordert Synergie und Synergie erzeugt man, indem man
Es setzt sich immer mehr durch, Zielvereinbarungen zu treffen
Wenn in einer Klasse Kinder und Jugendliche unterrichtet werden, die besonderer pädagogischer Aufmerksamkeit bedürften, sollten auch die beteiligten Lehrkräfte darüber austauschen und schriftlich festhalten, welche Ziele sie verfolgen wollen.
Viele Probleme in Institutionen beruhen auf unausgesprochenen und divergierenden Erwartungen, fehlenden und unklaren Absprachen oder nicht hinreichend geklärten Zuständigkeiten. Dies mindert nicht nur die Qualität der zu leistenden Arbeit. Es kann auch zu atmosphärischen Verstimmungen führen, zu chronisch schlechtem Betriebsklima oder sogar zu Mobbing, kurz, zu Zuständen, wo dann "nichts mehr geht".
Dem kann man vorbeugen durch eine Verbindung von Transparenz und Verbindlichkeit, wie sie z.B. in dem Instrument der Kontrakte angestrebt wird. Durch das Kontraktieren werden die wechselseitigen Erwartungen geklärt und Arbeitsteilung als Aufgabenverteilung festgelegt.
Wie kommt man in der kollegialen Zusammenarbeit zu einem Kontrakt? Lassen sie uns von dem Fall ausgehen, dass ein Schüler auffällig geworden ist und besonderer pädagogischer Angebote bedarf.
Sie finden in Ihren Unterlagen ein Beispiel, wie eine Grundschullehrerin und eine Sonderschullehrerin mittels eines Kontraktes ihre Arbeitsbeziehungen regeln können.
Zielvereinbarungen und Kontrakte sind kein Allheilmittel. Sie bedürfen des guten Willens aller Beteiligten und sie sind nicht juristisch einklagbar. Aber sie machen vieles bewußt und transparent und sie sind in jedem Fall ein Fortschritt gegenüber dem Unmut, der sich aufstauen kann (und muss), wenn Kooperationsprozesse nicht geregelt sind, die Ziele nicht ausgetauscht und jeder enttäuscht ist, weil seine unausgesprochenen Erwartungen sich nicht erfüllen.
6.
Fazit
Diagnosen sind ein wichtiger Bestandteil des pädagogischen Geschehens.
Jedes Arbeitsfeld und jede Profession benötigt ihr eigenes Handwerkszeug. die Pädagogik verfügt über andere diagnostische Zugänge zu einem Kind als die Psychologie und für das Arbeitsfeld Schule benötigt man eigene Diagnoseverfahren. Wie solche Diagnoseverfahren beschaffen sein können habe ich versucht, an zwei Beispiel zu verdeutlichen.
Diagnosen allein werden nichts zum Besseren wenden. Es bedarf sinnvoller pädagogischer Handlungen, die auf die Diagnosen aufbauen. Man benötigt Menschen, die diese Handlungen ausführen und Lehrkräfte, die in diesem Sinne vernünftig miteinander kooperieren. Ich wünsche Ihnen, dass Ihnen das zu Ihrer Zufriedenheit und zur Zufriedenheit aller gelingt.
Zielvereinbarung und Förderkontrakt
(Beispiel)
Name des Kindes, das gefördert werden soll:
Severin
An der Förderung beteiligte
Lehrkräfte
Vorrangige Förderziele: Verbesserung der
Schriftsprachkompetenz, Steigerung von Erfolgszuversicht in Bezug auf das Lesen
und Schreiben
Vorläufige Dauer der Förderung: bis zum Ende
des ersten Quartals
Aufgaben, die von der Sonderschullehrerin, Frau
Rautenberg, übernommen werden sollen
Aufgaben, die von der Grundschullehrerin, Frau
Reeder übernommen werden sollen
Weitere Vereinbarungen:
GL und SOL treffen sich immer Do nach der 5.
Stunde, um sich über die Erfahrungen mit den Förderkindern auszutauschen und die
erforderlichen Schritte für die kommende Woche zu
planen.
Bremen, den 30.9.2002, P. Reeder, K.
Rautenberg
Bremer Arbeitskreis: Förderdiagnostik, Förderkonzepte und
-materialien
Förderdiagnostik
Fördermaterialien
Förderkonzepte
Rückfragen und Rückmeldungen an:
Prof. Dr. Rudolf Kretschmann
Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissenschaften (12)
Universität Bremen
Postfach 330440
D-28334 Bremen
E-mail:
rudolf.kretschmann@t-online.de
Weitere Informationen finden Sie unter
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